
Warum halten wir noch immer am Neoliberalismus fest?
Warum diskutieren wir nicht über Alternativen?
Warum bleiben wir auf dem eingeschlagenen Weg, obwohl der eingeschlagene Weg ganz offensichtlich auf einen Abgrund zuführt?
Obwohl der eingeschlagene Weg nicht nur unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung bedroht, sondern sogar unsere Lebensgrundlage?
Denn diesen Weg beschreiten wir seit der Verbreitung der neoliberalen Ideologie ab den 70er Jahren.
Verschiedene Krisen oder doch Symptome einer einzigen Krise?
Betrachten wir zunächst die drängendsten Probleme der Gegenwart.
Umwelt:
- Globale Erwärmung
- Extremwetterereignisse
- Anstieg des Meeresspiegels
- Versauerung der Ozeane
- Artensterben
- Zerstörung von Lebensräumen
- Überfischung
- Luftverschmutzung
- Wasserverschmutzung
- Vergiftete Böden durch Chemikalien, Schwermetalle, Müll
- Plastik bis in die Tiefen des Ozeans und auf den Gipfeln der höchsten Berge
- Ausgelaugte Böden
- Wasserknappheit
- Versiegelung der Böden
- Rohstoffknappheit
- Überkonsum
Soziales:
- Armut
- Einkommensungleichheit/wirtschaftliche Spaltung
- soziale Ausgrenzung
- Arbeitslosigkeit
- prekäre Beschäftigung
- Bildungsungleichheit
- ungleiche bzw. in manchen Regionen kaum vorhandene Gesundheitsversorgung
- Rassismus und Diskriminierung
- Geschlechtsspezifische Gewalt
- Kriege und Konflikte
- Flucht und Migrationsbewegungen
Kann man diese Probleme tatsächlich alle getrennt voneinander betrachten und lösen? Oder sind all diese Probleme nicht doch eher die Symptome einer einzigen, übergeordneten Krise?
Um zu verstehen, warum sich die Welt in ihrem aktuellem Zustand präsentiert, muss man sich unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem, den neoliberalen Kapitalismus genauer anschauen.
Was versteht man unter Neoliberalismus?
Lobbypedia schreibt zum Neoliberalismus:
„Als Neoliberalismus wird eine wirtschaftsliberale Strömung in Wissenschaft und Politik bezeichnet, die sich auf das Erreichen der optimalen Funktionsbedingungen für Märkte fokussiert. Sie entstand in den 1930er Jahren durch Denker wie Friedrich August von Hayek und gewann durch Netzwerke wie die Mont Pelerin Society schnell an politischem Einfluss. Später wurde sie unter anderem von Milton Friedman weiter ausgearbeitet. Sowohl die interne Einteilung in Schulen als auch die Zuordnung von Positionen als neoliberal sind wegen der hohen politischen Aufladung des Begriffes oft umstritten.
Politische Mittel, die dem Neoliberalismus häufig zugeordnet werden, sind Privatisierung, Deregulierung, Lohnzurückhaltung, Steuersenkung und ein möglichst schlanker Staat, der das Sicherstellen von reibungslosem Marktgeschehen als einzige Aufgabe hat. Ihr wirtschaftspolitischer Kompass ist die gesamtwirtschaftliche Angebotsseite, also Unternehmen und deren Shareholder-Value. Diese Definition seiner Kritiker ist nicht identisch mit der ordnungspolitischen Einordnung.
Neoliberale Theorien gewannen nach der Ölkrise in den 1970er Jahren großen politischen Einfluss . Politiker*innen, die häufig besonders mit neoliberaler Politik in Verbindung gebracht werden sind beispielsweise der Republikaner Ronald Reagan in den USA, Margareth Thatcher in Großbritannien, Augusto Pinochet in Chile und Gerhad Schröder in Deutschland. Zudem bildet der Neoliberalismus die gesellschaftstheoretische Grundlage für den Washington-Konsens. In den USA wird der Neoliberalismus Neokonservatismus genannt, da das Wort liberal dort links oder sozialdemokratisch bedeutet. Gegenströmungen sind z. B. der Keynesianismus.“1
Zu den typischen wirtschaftspolitischen Instrumenten des Neoliberalismus gehören:
- Privatisierung
- Deregulierung
- Lohnzurückhaltung
- Steuersenkung
- ein zurückhaltender Staat
Also möglichst viel Besitz in den Händen der Privatwirtschaft, möglichst wenig Regeln für Unternehmen, niedrige Löhne, niedrige Steuern und ein Staat, der sich weitestgehend aus wirtschaftlichen Prozessen heraushält.
Der „freie Markt“ und ewiges Wachstum wird hierbei als „alternativlos“ dargestellt (so wird eine kritische Auseinandersetzung im Keim erstickt. Ohne Alternativen ist eine Diskussion darüber müßig), dem alles andere unterzuordnen ist. Regulatorische Maßnahmen, wie Umweltstandards und Rechte von Arbeitnehmer*innen, werden als „Markthindernisse“ abgelehnt. Und schließlich, so die These, sorgt ein unregulierter, „freier“ Markt für unendliches Wachstum und immer größeren Wohlstand. Schlussendlich wird der Profit der Unternehmen und der Reichtum ihrer Vorstände automatisch nach unten sickern, sodass letztlich alle profitieren – die sozialen Probleme würden durch den Markt von ganz alleine gelöst. Diese Wirtschaftsthese ist als „Trickle-Down-Effect“ bekannt.
Gleichzeitig wird behauptet, „der Markt“ wird, solange der Staat ihn nicht reguliert bzw. solange der Staat nicht lenkend eingreift, schon irgendwelche Technologien hervorbringen, die alle oben genannten Umweltprobleme Probleme lösen werden.
Mittlerweile wird der Neoliberalismus sogar allmählich durch den Libertarismus, welcher in Wirtschaftskreisen zunehmend Zuspruch erhält, abgelöst. Der Libertarismus ist im Grunde ein total entfesselter Kapitalismus ohne demokratische Kontrolle und würde die negativen Folgen des Neoliberalismus noch verstärken. Also noch weniger Staat – der Staat wäre faktisch machtlos.
Doch ist der „freie“ Markt in der Lage, die drängendsten ökologischen und sozialen Probleme aus sich heraus, d.h. ohne staatliche Eingriffe und Regeln zu lösen?
Die Auswirkungen der neoliberalen Politik auf die Wirtschaft
David Hope und Julian Limberg haben im Rahmen einer 50 Jahre andauernden Studie in 18 Ländern untersucht, welchen Einfluss Steuersenkungen bei Vermögen und Spitzeneinkommen auf die Arbeitslosenquote und das BIP haben. Sie verglichen in der Studie Länder, die die Steuern für Unternehmen und Vermögende gesenkt hatten mit Ländern, in denen das nicht geschah.
Das Ergebnis: Die Entwicklung des BIP und der Arbeitslosenquote der Länder, die der neoliberalen Ideologie folgten, war identisch mit den Ländern, die einen anderen Weg einschlugen.
Dennoch konnten die Forschenden einen nachhaltigen Effekt der neoliberalen Steuersenkungen beobachten: Die Einkommen der Reichen wuchsen wesentlich schneller, die wirtschaftliche Kluft wurde rasch größer.
Die These des Trickle-Down-Effect hat sich also nicht bestätigt.
Ganz offensichtlich sickert der Wohlstand eben nicht langsam nach unten – weder in die Mittelschicht, geschweige denn nach ganz unten zu den Armen. Wie soll es denn auch anders sein, wenn ein wesentlicher Bestandteil des Neoliberalismus „Lohnzurückhaltung“ ist. Sämtliche Steuererleichterungen verbleiben bei den Reichen, da sie mehr von ihrem Vermögen behalten können.
Julian Limberg, einer der Autoren der Studie kommt sogar zu dem Schluss: „Basierend auf unserer Forschung würden wir argumentieren, dass die wirtschaftliche Begründung für niedrige Steuern auf Reichtum schwach ist. Tatsächlich war die Zeit mit den höchsten Steuern für Reiche in der Nachkriegsperiode eine Zeit mit hohem wirtschaftlichen Wachstum und niedriger Arbeitslosigkeit.“
Die Studie lief bis ins Jahr 2015. Die massive Steuerreform von Trump, die 2017 in Kraft trat und die zu einer erneuten massiven Steuersenkung führte, wurde bei dieser Studie also nicht mehr berücksichtigt. Die Ökonomen Emmanuel Saez und Gabriel Zucman kamen jedoch im Jahr 2019 zu dem Schluss, dass sich die Vermögen der Überreichen erhöht haben2.
Die ökologischen Folgen der neoliberalen Politik
Die ökologischen Folgen der neoliberalen Politik sind gravierend: so ist der Ausstoß von Klimagasen zwischen 1970 und 2004 um 70% angestiegen. Bei CO2 allein lag der Anstieg sogar bei 80%3.
Auch die Biodiversität sinkt rapide. Laut WWF Living Planet Report 2024 sind die Wildtierbestände seit 1970 um 73% gesunken4. Der Ressourcenverbrauch hat sich seit 1970 vervierfacht5. Das Plastikproblem ist ebenfalls schon 1972 behandelt worden6, der Umfang des Meeresspiegelanstiegs hat sich seit 1970 verdreifacht7 – der Meeresspiegel steigt also immer schneller. Auch langjährige Dürren haben in den letzten 40 Jahren zugenommen8, die Zerstörung der Böden nimmt ebenfalls immer bedenklichere Ausmaße an9. Ich könnte hier an dieser Stelle wohl noch ewig weiter machen. Bei sämtlichen ökologischen Problemen zeigt sich: Bereits seit den 1970er Jahren sind die Probleme bekannt. Seit den 1970er Jahren breitet sich die neoliberale Ideologie immer weiter aus. Und beinah genau so lange warten wir darauf, dass „der Markt“ irgendeine Technologie hervorbringt, die diese Probleme löst. Während wir gleichzeitig die Technologien, die der Markt tatsächlich hervorgebracht hat, ignorieren. Denn die Nutzung dieser Technologien setzt vorherige Investitionen voraus. Investitionen jedoch kosten Geld und senken die Profitabilität. Sinkende Profitabilität steht im Gegensatz zu immer neuen Rekordgewinnen.
Fazit
Es scheint eindeutig festzustehen – in dem Maße, in dem sich der Neoliberalismus als vorherrschende Ideologie durchgesetzt hat, steigt auch der Ressourcenverbrauch, die Umweltzerstörung, der CO2-Ausstoß, die Ungleichheit und die damit einhergehenden sozialen und ökologischen Probleme. Der Neoliberalismus ist also ganz offensichtlich nicht in der Lage, die aktuellen Probleme zu lösen, sondern ist die Ursache. Die KI von Microsoft (CoPilot) und Google (Gemini) sehen das übrigens ähnlich10. Hat die Menschheit bereits vor 1970 über ihre Verhältnisse gelebt, hat sich dieser Trend seit den 1970er Jahren (also ab dem Aufkommen des Neoliberalismus) nochmal beschleunigt.
Eigentlich sollte die Tatsache kaum überraschen, dass ein völlig unregulierter Markt weder die sozialen, noch die ökologischen Probleme lösen kann und wird, die er selbst erst hervorgebracht hat.
Denn der neoliberale Kapitalismus verlangt nach ewigem Wachstum, nach immer neuen Rekordgewinnen. Immer mehr Wachstum ist jedoch nicht möglich, ohne die planetaren Grenzen zu sprengen und Mensch und Natur rücksichtslos auszubeuten. Wachstum und Ressourcenverbrauch oder CO2-Ausstoß können ganz offenbar nicht entkoppelt werden. Grünes Wachstum ist und bleibt ein schöner Traum fern der Realität (warum habe ich bereits in einem anderen Artikel erläutert11). Gleichzeitig werden Effizienzgewinne nicht nur durch den „Rebound-Effect12“ aufgefressen, sondern auch durch die Jagd nach immer neuen Rekordgewinnen, bzw. durch den Wachstumszwang. Denn Effizienzgewinne ohne immer neue Rekordgewinne bringen kein Wachstum.
Alle Fakten zeigen ganz deutlich: Der Neoliberalismus ist nicht die Lösung, sondern die Ursache. Nicht nur für die ökologischen Folgen, sondern auch für die sozialen. Der Neoliberalismus ist der Grund, warum die Rechtsextremen überall erstarken.
Eine Lösung dieser Probleme ist im Neoliberalismus nicht angelegt.
Dennoch halten die meisten Politiker*innen und Ökonom*innen an der neoliberalen Ideologie fest.
Statt die ökologischen und sozialen Folgen des Neoliberalismus als Ursache für das Erstarken der Rechtsextremen zu bekämpfen, übernehmen sie lieber die Positionen und Sprache der Rechten.
Dass die wachsende wirtschaftliche Ungleichheit und das Gefühl immer größerer Teile der Bevölkerung, von der Politik nicht gehört bzw. ernst genommen zu werden, die Rechten stärkt, ist wahrlich keine neue Erkenntnis. Ebenso wenig neu ist die Erkenntnis, dass es die Rechtsextremen stärkt, wenn man ihre Positionen übernimmt.
Man kann fast den Eindruck gewinnen, den meisten unserer Politiker*innen und den meisten Ökonom*innen liegt weder etwas an unserer Lebensgrundlage, noch an unserer Demokratie.
Anders kann ich mir zumindest nicht erklären, warum wir in Bezug auf den Rechtsextremismus die Fehler der Vergangenheit wiederholen und wieso die Politiker*innen und Ökonom*innen trotz eindeutiger Faktenlage noch immer an der längst widerlegten neoliberalen Ideologie festhalten. Und das, obwohl die Folgen dieser Ideologie maßgeblich für das schwindende Vertrauen in die Demokratie und für den zunehmenden Verlust unserer Lebensgrundlage verantwortlich ist.
Es wird Zeit, dass sich diese Erkenntnisse endlich in Politik und Wirtschaft durchsetzen:
Der Neoliberalismus basiert nicht auf Fakten, sondern auf Glauben.
Es sind nicht viele einzelne Krisen, sondern eine einzige:
Die Krise heißt Neoliberalismus.
2Studie widerlegt Trickle-Down-Effekt
Warum ist Reichtum so ungerecht verteilt? - 42 - Die Antwort auf fast alles - Die ganze Doku | ARTE
9„Wir stehen am Abgrund und müssen uns entscheiden“: Wie die weltweite Bodenzerstörung zu stoppen ist
10CoPilot: „der Aufstieg des Neoliberalismus seit den 1970er Jahren wird oft als ein entscheidender Faktor für die Verschärfung sozialer und ökologischer Probleme angesehen. Diese Ideologie betont freie Märkte, Deregulierung und eine reduzierte Rolle des Staates, was zu einer stärkeren Konzentration von Wohlstand und Macht geführt hat. Gleichzeitig hat der Fokus auf kurzfristige wirtschaftliche Gewinne häufig die langfristigen sozialen und ökologischen Kosten ignoriert“
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