Die großen Lügen des neoliberalen Kapitalismus

Der Mindestlohn ist kein geeignetes Mittel zur Armutsbekämpfung. […] Klüger ist es, die Löhne von bestimmten Arbeitnehmern durch staatliche Zuschüsse zu ergänzen.“ (Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft)1

 

Man kann von den Arbeitgebern oder der Wirtschaft nicht verlangen, dass sie Existenzsicherung betreiben. Irgendwo hört es auf. Da muss schlussendlich die Sozialhilfe einspringen.“ (Roland A. Müller, Arbeitgeber-Direktor Schweiz)2

 

Schau dir diesen Fatzke von der Arbeiterschicht an!“ (eine wohlhabende Kundin in meinem Beisein zu ihrem Mann über Lars Klingbeil)

 

Dann müssen Sie eben weniger verdienen!“ (eine andere Kundin zu mir, die den Preis von 400€ für ein Nachttischchen vom Schreiner zu hoch fand)

 

Warum müssen Arbeitnehmer Gewinn machen?“ (Mein Chef)

 

Ohne Geld bist du nichts wert!“ (seine Mutter)

 

Leistung muss sich wieder lohnen!“ (Slogan u.a. von CDU, CSU und FDP)

 

Die erste Lüge – das Aufstiegsversprechen

 

Diese Sätze zeigen: die Reichen und Überreichen sehen sich über dem Rest der Gesellschaft. Sie schauen auf die ärmeren Menschen herab. Und sie scheinen tatsächlich zu glauben, als Arbeitnehmer*in muss man dankbar sein, dass man für sie arbeiten „darf“. Schließlich bekommt man für diese Arbeit einen Lohn, der in der Regel gerade so die Lebenshaltungskosten deckt. 5,8 Millionen Menschen bekommen nicht mal das als Lohn; sie dürfen sich für einen Mindestlohn von aktuell 12,83€/Stunde ausbeuten lassen3. Dieses Recht, Arbeitnehmer*innen maximal den Lohn zu zahlen, damit ihre Arbeitskraft erhalten bleibt, begründet sich nur äußerst selten auf „Leistung“, sondern auf Besitz. Und dieser Besitz wird meistens vererbt oder durch ererbtes Vermögen vermehrt.

Da zwei Drittel der Menschen über kein nennenswertes Vermögen verfügen4 und lediglich ein Gehalt bekommen, welches den Aufbau von Vermögen unmöglich macht, kann man das neoliberale Aufstiegsversprechen durchaus als unrealistisch bezeichnen, weshalb ein tatsächlicher Aufstieg nur äußerst wenigen tatsächlich gelingt.

 

Darüber hinaus ist für einen Aufstieg in eine andere soziale Schicht Bildung sehr wichtig. Aber in Deutschland hängt Bildung sehr stark von der sozialen Herkunft ab. Unter den Menschen aus der unteren sozialen Schicht haben 17% keine Ausbildung und ebenfalls 17% eine Hochschule besucht. Unter den Menschen der oberen Schicht haben nur 1% keine Ausbildung, während über die Hälfte (54%) eine Hochschule besucht haben5. Und eine schlechtere (Aus)Bildung bedeutet in der Regel auch immer eine schlechtere Bezahlung. Und selbst, wenn doch jemand aus der unteren sozialen Schicht einen Akademischen Abschluss erwerben konnte, wartet danach eine Karriere mit zahlreichen unbezahlten Praktika oder schlecht bezahlten befristeten Jobs. Ein Vermögensaufbau ist so natürlich undenkbar. Angehörige der Oberschicht hingegen können auf die Unterstützung durch die Familie bauen, meist auf ein ausgedehntes Netzwerk zurückgreifen und kommen so schneller an besser bezahlte Jobs. Oder sie treten einfach in das Familienunternehmen ein.

 

Wenn der Aufstieg doch gelingt, liegt es nicht (nur) an herausragenden Leistungen, sondern in erster Linie an Zufällen und gut genutzten Gelegenheiten. Ein weiterer wichtiger Faktor für den sozialen Aufstieg sind für Aladin El-Mafaalani, Professor für Politische Soziologie an der Fachhochschule Münster, „soziale Paten“. Dabei handelt es sich um Menschen aus höheren sozialen Schichten, die als Mentor die Funktionen übernehmen, die das eigene soziale Umfeld nicht erfüllen kann. Wie wichtig ein solcher „sozialer Pate“ für den Aufstieg ist, sieht man daran, dass jeder Aufsteiger einen solchen Paten hatte6. Diese Handvoll Aufsteiger wird dann regelmäßig vorgezeigt, um das neoliberale Aufstiegsmärchen zu belegen. Für eine überwiegende Mehrheit bleibt dieser Traum jedoch unerreichbar.

 

Denn ein Aufstieg in eine höhere soziale Schicht wird aktiv verhindert durch:

  • Löhne, die Vermögensaufbau unmöglich machen

  • hohe Abgabenlast auf Einkommen aus Erwerbstätigkeit

  • Bildungs- und Chancenungleichheit

  • Druck auf Arbeitnehmerinnen durch

    • mangelhafte soziale Absicherung im Falle von Arbeitslosigkeit/Erkrankung

    • drohendem Arbeitsplatzverlust bei Forderung nach Einhaltung von Arbeitnehmerrechten und angemessener Vergütung

    • großem Niedriglohnsektor

    • Altersdiskriminierung

 

Ich gehe deshalb so weit, dass der Aufstieg in eine andere soziale Schicht nicht gewollt ist. Das Aufstiegsversprechen ist eine Lüge. Dennoch bedienen die Überreichen, ihre zahlreichen Lobbyorganisationen und ihnen hörige Politiker*innen permanent das Narrativ, jeder könne es schaffen. Und wenn man es nicht schafft, ein bisschen nach oben zu kommen, ist man es selbst Schuld. Man ist schlicht zu faul – strengt sich einfach noch immer nicht genug an. Eine klassische Täter-Opfer-Umkehr.

Und während man sich selbst immer mehr anstrengt, obwohl man sich vor Rückenschmerzen kaum bewegen kann und darüber nachdenkt, wie man die Reparatur des Autos bezahlen soll, werden die Reichen und Überreichen immer reicher. Diesen Reichtum investieren sie aber natürlich nur noch in Finanzprodukte und Spielereien, wie Bitcoins. In der Realwirtschaft kommt von diesen Vermögen jedoch immer weniger und bei den Arbeitnehmer*innen, den Rentner*innen und Bürgergeldempfänger*innen fast gar nichts an.

 

Die zweite Lüge – Trickle-Down

 

Weil es scheinbar nicht ausreicht, die Arbeitnehmer*innen auszubeuten, wird zusätzlich der Staat ausgenommen. Legale und illegale Steuervermeidungstricks führen trotz immer höherer Profite der Unternehmen und Milliardäre zu leeren öffentlichen Kassen.

Begründung für die legalen Steuertricks und die mehr als dürftige Verfolgung von Steuerhinterziehung und anderer Wirtschaftskriminalität ist eine weitere große Lüge des Neoliberalismus: die Trickle-Down-Theorie. Hartnäckig hält sich die Annahme, dass Entlastungen für Konzerne und Reiche irgendwann allen zugute kommen, da der Reichtum langsam auch in tiefere soziale Schichten sickert.

 

Dabei zeigen die Aussagen von

 

  • Roland A. Müller („Man kann von den Arbeitgebern oder der Wirtschaft nicht verlangen, dass sie Existenzsicherung betreiben. Irgendwo hört es auf. Da muss schlussendlich die Sozialhilfe einspringen“),

  • der INSM („Der Mindestlohn ist kein geeignetes Mittel zur Armutsbekämpfung. […] Klüger ist es, die Löhne von bestimmten Arbeitnehmern durch staatliche Zuschüsse zu ergänzen.“),

  • meinem Chef („Warum müssen Arbeitnehmer Gewinn machen?“)

  • der wohlhabenden Kundin („Dann müssen Sie eben weniger verdienen!“)

 

ganz deutlich, es wird kein Trickle-Down geben. Die Entlastungen für die Reichen und die Unternehmen werden niemals freiwillig an die Arbeitnehmer*innen weitergegeben. Das war nie Teil des Plans. Und es wurde längst bewiesen, dass die Entlastungen für Reiche und Konzerne nicht zu einem Trickle-Down geführt haben7. Eine direkte Folge der Steuergeschenke waren jedoch leere öffentliche Kassen.

 

Die dritte Lüge – Privatisierungen sorgen für sinkende Kosten bei besserer Versorgung

 

Aber auch hier wird – wie bei dem nicht erfüllten Aufstiegsversprechen – in Kampagnen neoliberaler Organisationen, wie INSM oder Die Familienunternehmer e.V. eine Täter-Opfer-Umkehr betrieben. Denn an den leeren Kassen sind natürlich nicht die Reichen mit ihren Privilegien und Steuertricksereien schuld, sondern der angeblich viel zu teure Sozialstaat.

 

Die Annahme, dass der Staat ebenso Renditeerwartungen zu erfüllen habe, wie ein privatwirtschaftliches Unternehmen, führte zur Privatisierung staatlicher Bereiche und öffentlicher Güter. Begründet wurde das damit, dass privatwirtschaftliche Unternehmen effizienter und damit billiger seine, als der Staat. Aber natürlich wurden nur profitable Geschäftsfelder (teil)privatisiert8, wie z.B. die Energie- und Wasserversorgung, Bahn, Post und Telekommunikation, Kliniken, Pflegeheime, Autobahnraststätten und die Abfallwirtschaft. Und natürlich nicht zu vergessen die Privatisierungen der Ost-Betriebe nach der deutschen Wiedervereinigung. Die eigens dazu gegründete „Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums“ privatisierte 13.000 volkseigene Betriebe (VEB), über 22.000 Geschäfte, Gaststätten und Hotels. Dabei gingen natürlich 80% der ostdeutschen Betriebe an Westdeutsche. Und nur 6% des ehemaligen Volkseigentums gingen an Ostdeutsche. Der Rest ging an ausländische Investoren.

 

Bis heute hat der deutsche Staat 90% seiner mittelbaren und unmittelbaren Beteiligungen veräußert. Eigentum, das eigentlich dem Staat (und somit uns allen) gehörte, ist jetzt im Besitz einiger weniger. Die Bilanz der neoliberalen Privatisierungen fällt dabei – zumindest aus Kunden- und Beschäftigtensicht – negativ aus. So konnten Studien beweisen, dass Outsourcing meist teurer ist, als wenn diese Dienstleistungen von staatlichen Beschäftigten erledigt werden. Auch die Privatisierungen von ehemals kommunalen Wohnungen hatten für die Mieter negative Folgen. Bezahlbarer Wohnraum wird zunehmend Mangelware, die Zahl der Sozialwohnungen ist von knapp 3 Millionen in den 90er Jahren auf knapp 1,1 Millionen im Jahr 2023 gesunken9. Und das, obwohl der Bedarf für bezahlbaren Wohnraum nie größer war, als heute. Lag die Armutsquote 1990 noch bei schätzungsweise10 11-12% (8,7-9,5 Mio Menschen), stieg sie bis zum Jahr 2023 auf 16,6% (14 Mio Menschen). Bereiche, in denen sich eine Privatisierung für die Privatwirtschaft nicht lohnen, werden mehr und mehr zusammengestrichen – z.B. die Arbeitslosenversicherung oder Bildung.

 

Die vierte Lüge – ein möglichst unregulierter Markt wird alle Probleme lösen

 

Der neoliberale Kapitalismus konnte nicht ein einziges Versprechen einhalten11. Schlimmer noch – er die meisten unserer Probleme erst verursacht:

  • die Deregulierung des Arbeitsmarktes führte zu einem großen Niedriglohnsektor und zahlreichen prekären Arbeitsverhältnissen.

  • die neoliberalen Steuersenkungen kosten Bund, Länder und Kommunen viele Milliarden und führten zu leeren Kassen und am Ende zu Kürzungen bei den Sozialausgaben. Verschärft wurde das durch die Aufnahme der Schuldenbremse ins Grundgesetz.

  • die Privatisierungen führten zu steigenden Preisen für die Verbraucher*innen bei teilweise schlechteren Leistungen

  • massive ökologische Folgen durch Raubbau und Treibhausgasausstoß

 

Dass ein „freier Markt“ diese Probleme noch lösen wird, ist wohl eher nicht zu erwarten. Schließlich warten wir darauf, seit der Club of Rome im Jahr 1972 „Die Grenzen des Wachstums“ vorgestellt hat. Seitdem ist nicht ein einziges Problem gelöst worden. Im Gegenteil: Plastik findet sich mittlerweile auf dem höchsten Gipfel und am tiefsten Punkt des Meeres, das Klima spielt verrückt, wir sind verantwortlich für das sechste große Massensterben, wir zerstören mit den letzten Regenwäldern die „grüne Lunge“ unseres Planeten, wir zerstören die Böden durch unsere industrielle Landwirtschaft.

 

Außerdem führte der „freie Markt“ zu Reallohnverlusten bei einem Großteil der Bevölkerung und gleichzeitig zur Konzentration von Vermögen und Macht bei einigen wenigen.

 

Fazit:

 

Diese ganze neoliberale Propaganda des Kapitals führt zu stetig wachsender Ungleichheit. Die Ungleichheit führt zu einer Schwächung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und schlussendlich zu einer Stärkung der extremen Ränder, besonders des rechten Rands.

Es ging wahrscheinlich nie um Wohlstand für alle. Es ging auch nie darum, dass alle aufsteigen können. Warum sollte das auch so sein? Schließlich braucht der Kapitalismus eine Unterschicht für die schlecht bezahlte Drecksarbeit. Und je schlechter die Unterschicht bezahlt wird, desto höher ist der Profit. Und je prekärer die Situation derjenigen ist, die gar nicht arbeiten können oder dürfen (wie die Geflüchteten), desto größer ist der Druck, der auf den Arbeitnehmer*innen lastet.

Es ging auch nie darum, dass die Entlastungen für Konzerne, Überreiche nach unten sickern. Denn wie können Unternehmen jedes Jahr aufs neue Rekordgewinne einfahren, wenn ein Teil dieser Gewinne an die Angestellten geht?

Es ging auch nie darum, die ehemals staatlichen Aufgaben effizienter, günstiger und besser anzubieten, sondern darum, sich das öffentliche Tafelsilber unter den Nagel zu reißen und sich auf Kosten der Allgemeinheit zu bereichern.

Und es war auch nie das Ziel, dass der „freie Markt“ alle Probleme löst, die er selbst hervorgebracht hat, sondern möglichst lange an bestehenden Geschäftsfeldern zu verdienen.

Der neoliberale Kapitalismus ist ein krankes System. Er ist in seiner Grundstruktur feudal und basiert auf Macht, Besitz und hierarchischen Abhängigkeiten. Je mehr man den Kapitalismus dereguliert, desto deutlicher treten die negativen Folgen des Kapitalismus hervor. Das gilt sowohl für die ökologischen, wie auch für die sozialen/gesellschaftlichen Folgen. Ein deregulierter Kapitalismus verfestigt die sozialen Schichten und verhindert zunehmend den Aufstieg in höhere soziale Schichten. Der neoliberale Kapitalismus basiert auf Ungleichheit, Ausbeutung von Mensch und Natur und auf nahezu undurchlässigen sozialen Schichten. Er hat mit der ursprünglichen sozialen Marktwirtschaft (fast) nichts mehr zu tun. Er ist maßgeblich verantwortlich für die ökologischen und sozialen Folgen. Der Kapitalismus muss dringend reguliert werden. Denn ohne Regulierung ist er ein gefräßiges Monster.

 

Dennoch werden auch nach Plänen der neuen Bundesregierung wieder vor allem die Reichen und die Unternehmen entlastet. Und es kommt auch aus den Reihen der Politik – wie immer vorne dabei CDU/CSU – die Forderung nach Bürokratieabbau und Deregulierung.

 

Der neoliberale Kapitalismus führt wegen fehlender Regulierung zu einer existenziellen ökologischen Katastrophe. Durch den Wachstumszwang sind Klima- und Umweltschutzstandards, Menschenrechte sowie die Rechte von Arbeitnehmer*innen Wachstumshemmnisse und werden niemals freiwillig umgesetzt werden.

 

Wir müssen uns endlich eingestehen, dass unser Wirtschaftssystem seine Grenzen erreicht hat. Wir müssen aufhören. Der neoliberale Kapitalismus schafft die Probleme selbst. Er kann sie aber nicht lösen.

 

Politiker*innen und Unternehmer*innen, die weiterhin an den vier neoliberalen Lügen festhalten, sind entweder erschreckend uninformiert, naiv, dumm, oder lügen bewusst, weil sie persönlich profitieren.

 

Auf jeden Fall sind sie Teil des Problems.

 

 

10Genaue Zahlen zu 1990 liegen nicht vor. Quelle Microsoft Copilot

 

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